Die Gezeiten meiner Seele

Allein, einsam, verloren. Verloren in der Welt der Gedanken. Sitzend auf einem Stuhl. Fernab der Realität. Es scheint als schwebe ich – irgendwo in der Galaxie. In der Galaxie der Fragen. Der unbeantworteten, offenen Fragen. Fragen, die eine Antwort verlangen, keine Gegenfrage etwa, nein, eine Antwort. Die Fragen, die keine Antwort bekommen, verfallen nicht wirklich, auch wenn es so aussieht. Solch eine Frage vermag es sich irgendwo zu verstecken – in den Herzen der Menschen. In meinem Herzen. Irgendwo ganz tief im Innern. Vielleicht kommen sie niemals wieder heraus, sondern bleiben versteckt. Versteckt und verschlossen. Doch des öfteren halten sie sich nicht daran. Dann bleiben sie nicht versteckt, verbergen sich nicht mehr vor dem Leben. Sie brechen aus und sind grausamer als zuvor. Aus harmlosen Gedanken, dahin gedachten Fragen, werden die ärgsten Feinde. Fies und unberechenbar. Sie kommen nicht in ihrer alten Form zurück. Sie kommen in Form von Angst, Trauer, Depressivität.
Doch wie soll ich umgehen mit dieser Trauer? Dieser Angst? Vor allem Angst quält mich dann – jeden Tag. Es ist die Angst des Verlustes. Wie ein Muttertier, das Angst hat, dass man ihr ihre Kinder entzieht. Obwohl diese Ängste unbegründet, überflüssig sind. Sie kommen immer wieder und fressen tiefe Gedanken in meine Seele. Ein Gefühl, das droht, mich zu zerreißen. Als würde eine Kugel in meinem Bauch immer und immer größer, bis sie schließlich platzt. Sie hatte zu wenig Spielraum in meinem Körper. Manchmal ist es auch die Angst vor mir selbst. Vor meinem eigenen Ich. Erschreckend? Ja. Doch was soll ich tun? Ich bin offen für alles, liebe das Leben. Doch nur wenigen zeige ich meine Wunden, nur wenigen zeige ich den Weg. Den Weg zu meinem Herzen. Ich habe Angst. Angst davor, dass ich diesen Menschen nicht mehr aus dem Labyrinth heraushelfen kann. Raus aus dem Labyrinth meines Körpers, meiner Seele. Ja, raus aus dem Labyrinth meines Herzens. Dann sind sie gefangen, können nicht zurück. Auch wenn ich den Willen habe. Ich habe Angst, sie nicht mehr loszubinden. Nicht mehr zu befreien aus den Fesseln meiner Liebe. Ich habe Angst davor, dass sie erdrückt werden – von dem Ball in meinem Bauch. Was tue ich dann? Zusehen? Zusehen wie die wichtigsten Menschen meines Lebens sterben? Sie sterben nicht wirklich. Doch sie machen mich anschließend dafür verantwortlich. Denn irgendwann ist es soweit. Dann haben sie es ohne meine Hilfe geschafft, sich aus den Fesseln zu befreien. Sie haben alleine den Weg hinaus gefunden. Hinaus aus meinem Herzen. Dann sind sie glücklich. Ich bin stumpf. Alles Leben in mir existiert nicht mehr. Es ist wie mit den Gezeiten des Meeres. Doch in mir gibt es keine Flut mehr. Ebbe hat die Oberhand gewonnen. Als hätte jemand den Stöpsel aus der Badewanne gezogen. Den Stöpsel aus meinem Körper. Das Wasser, welches ich zum Baden brauche, fließt auch aus mir heraus. Doch nicht als Wasser. All die Liebe entschwindet aus mir. Ich habe Angst davor, in die Zukunft zu blicken. Oft habe ich Angst davor, zu leben. Was kommt morgen? Wird das Wasser noch in der Badewanne sein? Oder bin ich vielleicht aus Versehen selber an den Stöpsel gekommen und habe ihn herausgezogen? Ganz ohne Absicht. Nur wenn das Wasser einmal fließt, kann man es nicht mehr aufhalten. Auch ich nicht. Es ist dahin – für immer. Bevor ich dann wieder baden gehen kann, muß ich erst wieder neues Wasser einlassen. Doch das ist ein langer Weg. Und niemals wird es das selbe Wasser sein wie vorher. Dieses Wasser habe ich verloren. Denn das neue Wasser muß erst warm werden, muß mir gefallen, angenehm sein. Es sollte eine Art Kleber geben. Einen Kleber mit dem man den Stöpsel festkleben kann. So dass das Wasser nie wieder abläuft. Doch den gibt es nicht. Und vielleicht ist es auch besser so. Ich werde wohl versuchen müssen, beim Baden immer ganz vorsichtig zu sein. Damit ich nicht wieder den Stöpsel ziehe – auch nicht aus Versehen. Dann könnte ich solange baden wie ich will. Dann säße ich niemals wieder allein in der leeren, kalten Badewanne – allein mit meinem Quietscheentchen…

In Liebe, dein kleines Mädchen.