Ferienträume

Ich sitze an einem kleinen Keramiktisch, auf einem klapprigen Stuhl. Meine Ohren lauschen den Vögeln, die oben in den Baumgipfeln ihr Abendlied singen, und meine Augen beobachten die Blumen auf der saftigen Wiese, die sich leicht und sacht im Wind wiegen. Meine Augen nehmen nur noch eine Blume wahr. Eine kleine, unscheinbare Blüte – pink. Alles um mich herum ist vergessen. Kein Geräusch dringt zu meinen Ohren. Es scheint, als sei ich ganz allein auf der Welt. Allein, einsam – es gibt nur mich. Und die kleine, pinke Blume. Was denkt diese Blume wohl gerade – jetzt in diesem Moment? Ist sie genau so einsam wie ich? Wie gerne würde ich mich mit ihr unterhalten. Vielleicht würde sie mir zuhören, so wie meine Blume zu Hause auf dem Fensterbrett. Sie ist bestimmt auch einsam. Einsam. Einsam, was ist das überhaupt? Wenn man es ganz oft sagt, langsam und schnell hintereinander. Jedesmal finde ich keine Erklärung, keine Definition für dieses Wort. Einsam. Doch jedesmal wenn dieses Gefühl in mir aufsteigt, weiß ich: das ist es.
Immernoch sitze ich an dem kleinen Keramiktisch auf der Terasse. Alles um mich herum ist vergessen. Da, ein Vogel. Was will er sagen? Redet er mit mir? Vielleicht sucht er jemanden. Oder er erwartet seine Liebste. Seine Liebste. Liebe. Auch dies ist wieder eins dieser famosen Begriffe, die einem an den Kopf geworfen werden. Doch was heißt es? Welcher Mensch kann es definieren? Bedeutet es gebraucht zu werden? Beinhaltet es das „in-den-Arm-nehmen“? Oder steht es sogar in Verbindung mit dem unerklärlichen Begriff „einsam“? Ist „einsam“ vielleicht der Entzug von Liebe? Fehlt mir Liebe? Ja. Nur wer ist es, der mir diese Liebe geben kann? Sind es meine Eltern, die mir diese Liebe geben sollten? Müssen sie mich lieben? Will ich überhaupt von ihnen geliebt werden? Jein.
Hass, wenn ich dieses Wort genau betrachte, …es schmeckt nach Dunkelheit, Trauer, Verzweiflung, Einsamkeit, Liebe. Ich werde noch wahnsinnig. Hass, Liebe, Einsamkeit. Der Mensch tut so, als wüsste er alles. Der Mensch muß für alles eine Erklärung haben. Warum lebt der Mensch nach dem Standpunkt „für alles gibt es eine Definition, alles beinhaltet eine Formel“. Bis ins kleinste Detail wird alles zerstückelt und erforscht, bis irgendwann nichts mehr da ist. Kein Hass. Keine Liebe. Keine Einsamkeit.
Da steht sie, meine kleine pinke Blume. Hat sie jemanden der sie liebt? Den sie lieben kann? Kennen Blumen Liebe? Ja. Doch ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Gefühle haben – so wie wir Menschen. Kennen sie Schmerz? Den Schmerz, der mich schon seit Wochen quält? Es tut so weh. Wann nimmt mir jemand diese Schmerzen ab? Bitte, erlöst mich. Es tut so weh. Tränen. Sie kommen und gehen. Ohne sich vorher auf irgendeine Weise anzukündigen. Sie gehen ihren Weg – den, den sie gewählt haben. Sie fragen nicht danach, ob sie willkommen oder unpassend sind. Diese kleinen, unscheinbaren Tropfen – warum fühlen sie sich so stark? Ich bin doch viel größer. Warum fühle ich mich kleiner und schwächer als meine eigenen Tränen?
Klein. Ja, klein bin ich. Nicht nur mein äusserliches Erscheinen. Wer leitet mich? Wer sagt mir, wie ich leben soll? Ich nicht. Nein, dazu bin ich viel zu schwach. Meine Eltern? Nein. Sie zeigen mir bloß, wie ich mein Leben besser nicht leben sollte.
Vielleicht diese kleine, unscheinbare Blume? Kennt sie mich so gut? Kennt sie das Leben? Vielleicht braucht sie auch Hilfe. Wie ich. Kann mir eine kleine pinke Blume meinen Weg weisen? Ja. Warum?
Langsam verschwimmt das Bild der kleinen pinken Blume auf der saftigen Wiese. Die Vögel haben aufgehört zu singen. Noch immer sitze ich auf dem Klappstuhl am Keramiktisch, doch ich bin nicht mehr allein. Geräusche umhüllen mich. Topfgeklapper, Fernsehstimmen. Mein kleiner Bruder quängelt – will spielen. Was war das gerade? Ein Vogel. Er trägt meine Träume davon. Doch wer beantwortet mir all meine Fragen? Soll das etwa das Leben sein? Wenn ja, was bin ich darin – in dieser famosen Welt? Ein kleines, unscheinbares Mädchen – einsam, verträumt. Klein in dieser riesigen Welt.
Meine Mama liest mir Märchen vor. Mit Rittern, Helden und Prinzen, die ihre Prinzessinnen retten. Wo ist mein Prinz, der mich rettet – aus dieser traurigen, grauen Welt? Bitte hol mich hier raus – schnell.


In Liebe, dein kleines Mädchen.